Eine Gemeinschaftsaktion der Kulturschaffenden und Veranstalter Bad Segebergs
Koordiniert von Kulturkontor und SZ Segeberger Zeitung.
Drama
Regie: Yorgos Lanthimos
mit: Emma Stone (Bella Baxter) · Mark Ruffalo (Duncan Wedderburn) · Willem Dafoe (Dr. Godwin Baxter) · Ramy Youssef (Max McCandles) · Jerrod Carmichael (Harry Astley)
USA/Irland/Großbritannien 2023 | 142 Minuten | ab 16
CinePlanet5, Oldesloer Straße 34
In einem fiktionalisierten viktorianischen England hat ein Wissenschaftler aus dem Körper einer Toten und dem Gehirn eines Babys eine junge Frau erschaffen, deren Entwicklung er in der Isolation seines Anwesens beobachtet. Je mehr die Kreatur lernt, umso weniger will sie sich mit ihrem Dasein als Studienobjekt zufriedengeben. Nachdem sie ihre Sexualität entdeckt, emanzipiert sie sich aus den patriarchalen Strukturen ihres „Gott-Vaters“, aber auch ihres Liebhabers und anderer Männer. Ein durch und durch sexpositiver Retro-Science-Fiction-Film, der pointiert-komisch, aber auch klug-poetisch über die Conditio humana reflektiert. Explizit sind dabei weniger die zahlreichen Sexszenen als das Selbst-Erklärende einer in sich geschlossenen Welt, der es bei aller Komik und feministischen Kraft aber an Ambiguität und Imperfektion mangelt. - Ab 16.
Wenn irgendetwas „explizit“ sein soll an „Poor Things“ von Yorgos Lanthimos, dann sicher nicht seine jetzt schon berüchtigten zahlreichen Sexszenen, die eher jenem „wilden Herumspringen“ (im Original: „furiously jumping“) ähneln, als die sie im Film zuweilen bezeichnet werden. Explizit ist vielmehr das permanente Sich-Selbst-Kommentieren des Films, der in einem retro-futuristischen London des späten 19. Jahrhunderts spielt und dessen Inhalt eine einzige Allegorie auf ihn selbst darstellt. „Poor Things“ ist eine Kreation des fantasievollen Autorenfilmers Lanthimos, die von Emma Stone gespielte Bella Baxter eine Kreatur ihres Schöpfer-Gottes Dr. Godwin (Willem Dafoe), der das Göttliche schon im Namen trägt.
Ein gemarterter Daddy-God
Godwin hat einst den Körper einer hochschwangeren Selbstmörderin aus der Londoner Themse gefischt, um ihm das Hirn ihres Babys einzusetzen. Das Resultat dieser Operation, Bella Baxter, ist anfangs geistig ein Säugling im Körper einer erwachsenen Frau, die mit den Jahren die Entwicklung bis ins Alter einer jungen Erwachsenen durchlebt. Dementsprechend fallen ihre zu Beginn des Films steifen, ungelenken Bewegungen aus, etwa die Unmöglichkeit, ihren Schließmuskel zu kontrollieren, oder kindliche Wutanfälle.
Godwin, den Bella nur „God“ oder „Daddy-God“ nennt, ist aber kein sadistischer Frankenstein, sondern ein gemarterter Fleischberg, an dem schon sein eigener grausamer Gott-Vater im Dienst der Wissenschaft wahnwitzige Experimente vollführt hat. Beim Essen stößt er Seifenblasen in die Luft, weil ihm als Kind ganze Organe entfernt wurden. Diese Idee ist so schön wie die anderen von Godwin geschaffenen Kreationen, die sich in seinem Haus tummeln und auf seinem fantasievollen Operationstisch entstanden sind: ein Huhn mit dem Kopf eines Schweines, ein Lamm mit dem Kopf einer Gans – und eben Bella.
Je älter diese wird, desto mehr erwachen ihre Sexualität und ihre Lust, dem Haus zu entfliehen, in das ihr Schöpfer sie einsperrt. Bis sie Godwin dazu überredet, in Gesellschaft eines attraktiven Mannes (Mark Ruffalo), der an ihr interessiert ist, die Welt bereisen zu dürfen.
Emma Stone gibt alles
Das ist teilweise sehr witzig. Etwa das irgendwann fast schon mechanisch sich wiederholende „furiously jumping“. Oder wenn der von Ruffalo gespielte Liebhaber feststellt, dass Bella auch mit anderen Männern schläft, und sich vor Verzweiflung den Kopf an einer Lissaboner Hotelbar einschlagen will, während sie ihm tröstend die Hand auf die Schulter legt.
Emma Stone gibt alles. Der Körper, den sie spielt, gibt alles, und die Sprache, die sie spricht, gibt alles. Es ist ein Körper, der sagt, was er weiß, kommentiert, was er tut, und tut, was er sagt. Von Bellas Seite gibt es ein sprachliches Verdoppeln, Kommentieren und Benennen ihrer sexuellen Handlungen und der in diese Handlungen involvierten Organe. Es gab wohl noch nie einen Film des Disney-Konzerns, in dem das Wort „Klitoris“ so deutlich und gut hörbar ausgesprochen wurde. Bella nimmt kein Blatt vor den Mund, ignoriert die Regeln der feinen Gesellschaft und nennt die Dinge beim Namen – einen salzig schmeckenden Penis ebenso wie eine „seltsam gefederte Frau“ (Hanna Schygulla in einer hübschen Nebenrolle). Ihr gegenüber sind die Männer nicht weniger explizit. Der großartige Liebhaber bezeichnet sich als großartigen Liebhaber, und ein Mann der Armee spricht davon, Frauen zu erobern wie Territorien.
Durch ihre Ehrlichkeit wird Bella zum Spiegel für die Männer, die versuchen, sie zu besitzen, zu manipulieren und einzusperren. Sie ist der Spiegel, in dem sich die Männer sehen, um an ihrer Erbärmlichkeit zu krepieren. Sie entlarvt die optische Hässlichkeit ihres Vater-Gottes, die Eifersucht ihres „großartigen“ Liebhabers, das Schlecht-im-Bett-Sein vieler anderer Liebhaber sowie die Passivität desjenigen Mannes, der sie wirklich zu lieben scheint (ein Assistent von Godwin), für die Erzählung des Films und ihr eigenes Schicksal aber ohne weitere Bedeutung bleibt.
Ein „maximalistischer“ Film
Denn Bella ist von Anfang an „perfekt“. Es gibt nichts, was von Bella erst noch „erlernt“ werden muss (zum Beispiel die Liebe); vielmehr ist ihre Sexualität, einmal entdeckt, vollständig entwickelt, um sich danach nur immer weiter auszudehnen, sich alles einzuverleiben wie ein gefräßiges Tier. Ihr Begehren wird fortwährend gestillt; nie trifft ein Mangel auf. Bella dominiert stets alle und alles, ist nie und niemandem unterlegen. Das Resultat ist monströs: Bella ist eine Figur, die absolut identisch ist mit sich, die nie von sich abweicht, sich nie verrät, sich nie konterkariert, nie aus der Rolle fällt (weil sie es ohnehin ständig tut), sich nie täuscht, nie zaudert, nie schwächelt.
Ebenso der Film: „Poor Things“ ist maximalistisches Kino, zum Bersten gefüllt mit Ideen, visuellen Einfällen und Kreaturen. Für den Mangel ist in ihm kein Platz. Alle Körper werden stets (wieder-)verwertet, indem sie mit immer neuen kopulieren (Bella) oder mit immer anderen zusammenoperiert werden (von Godwin). Der Film will alles auf einmal sein. Ein großes Amalgam: Schwarz-weiß und Farbe, rosaroter Wolkenschimmer und blutiger Körperhorror, Vergangenheit und Zukunft (die Jahrhundertwende ist geprägt von retrofuturistischen Elementen – man denke an die Straßenbahnen, die am Himmel von Lissabon schweben). Auch Bella ist alles zugleich: Puppe wie Mensch, Kind wie Erwachsene, Mutter und Tochter. Der Film funktioniert wie Bella Baxter: Er enthält sich selbst, so wie sie sich selbst enthält (ist ihr Hirn doch das Hirn jenes Kindes, das sie in ihrem eigenen Leib getragen hat). Er ist perfekt. Er ist vollkommen.
Man kann es auch so formulieren: Es gibt in „Poor Things“ einen eklatanten Mangel an Scham. Und es ist diese Scham, diese Zurücknahme oder Zurückhaltung, die man irgendwann vermisst – nicht mit Bezug auf die Sexszenen oder den sexpositiven Feminismus, sondern weil der Film schlichtweg allen Raum einnimmt, den es gibt, und keinen Platz lässt für irgendetwas anderes als ihn selbst. Zum Beispiel für den Zweifel. Oder für seine Zuschauer:innen.
Es fehlt an Tiefe und Imperfektion
Die sind gefangen in der Innenwelt eines Films, die auch ohne Betrachter vollständig ist und der gegenüber man nur indifferent bleiben kann. So denkt man bei „Poor Things“ auch an zwei andere maximalistische Filme des Kinojahres 2023, an „Barbie“ und „Oppenheimer“. Auch diese Filme versuchen, einen künstlichen Körper zu erzeugen (eine Puppe, eine Silhouette, ein Monster, einen Weltenzerstörer), mit eigenem Geist und eigenem Kosmos. Und auch sie verunmöglichen den Zugang zu ihren Welten, indem sie sich, wie Bella, selbst enthalten und kommentieren, stets angeben, was sie tun, und die Arbeit ihrer eigenen Reflexion oder Dekonstruktion selbst übernehmen: „Oppenheimer“ mit seinem endlosen Gerede über Physik und Politik, „Barbie“ mit seinem Diskurs über Mattel und den Feminismus. In „Poor Things“ entspricht dies dem hyperexpliziten (Sich-Aus-)Sprechen über Sexualität.
Unter der Oberfläche dieser US-amerikanischen Filme schlummert keine verlockende Tiefe mehr, die sich „zusätzlich“ entdecken ließe, weil jegliche verborgene Bedeutung oder innere Unruhe, jeglicher Subtext und versteckte Konflikt längst an die Oberfläche geholt wurden. Die Subversion ist explizit geworden. Es gibt keinen Grund mehr, nach ihr zu suchen. Alles, was es gibt und geben kann, liegt brach auf der Leinwand. Die Kommentare liegen bereits vor.
Das sagt einiges über das Menschenbild aus, das von Lanthimos und Stone/Baxter vermittelt wird und ebenfalls vor unseren Augen brachliegt. „Poor Things“ wird von einem unverschleierten Diskurs der Selbstoptimierung bestimmt, nach dem, wie Bella Baxter es immer wieder formuliert, die Menschen „verbessert“ werden müssen. Wie „Barbie“ und „Oppenheimer“ kann man den Film als Beispiel einer (neo-)liberalen Fiktion lesen, deren Sinn darin besteht, eine verbesserte, reflektiertere, vollständig kommentierte Version ihrer Puppen und Monstren hervorzubringen. Und, natürlich, auch ihrer Filme!
Ein bisschen fleischlicher
Was bei Lanthimos’ offensichtlichem Geschick fürs Groteske wirklich schade ist. Man kann nur hoffen, dass er seine Manierismen und Metaebenen bald hinter sich lässt und (gerne wieder in Zusammenarbeit mit Emma Stone) einen Körper erschafft, der weniger perfekt und geschlossen, dafür aber realer, komplexer und opaker ist als jener von Bella Baxter. Also ein bisschen fleischlicher. Oder mutierender. Dazu sollte er dringend zu (seinem) Gott zurückfinden, auch bekannt als David Cronenberg.
Philipp Stadelmaier, FILMDIENST